Weite Auslegung des datenschutzrechtlichen Auskunftsanspruches
Auch Examensklausuren müssen entgeltfrei übersendet werden
Das Oberverwaltungsgericht NRW [OVG NRW, Urt. v. 08.06.2021 - 16 A 1582/20] hat entschieden, dass einem Absolventen des zweiten Staatsexamens ein Anspruch auf kostenfreie Zusendung einer Kopie seiner Aufsichtsarbeiten samt Prüfergutachten zusteht. Der Anspruch beruht dabei auf Art. 15 Abs. 3 S. 1, Art. 12 Abs. 5 S. 1 Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) i. V. m. § 5 Abs. 8 S. 1 Datenschutzgesetz (DSG) NRW.
Der Kläger absolvierte im Jahr 2018 erfolgreich seine zweite juristische Staatsprüfung und beantragte daraufhin im Oktober 2018 Einsicht in seine Prüfungsleistungen und die Prüfergutachten beim zuständigen Landesjustizprüfungsamt. Zugleich bat er um Übersendung der entsprechenden Kopien per Post oder auf elektronischem Weg. Das Landesjustizprüfungsamt forderte jedoch für die Übersendung und Herstellung der Kopien einen Vorschuss in Höhe von 69,70 €. Einen vom Kläger geltend gemachten Anspruch auf entgeltlose Übersendung der Daten auf Basis der DSGVO lehnte das Prüfungsamt ab. Der Kläger war nicht bereit, den geforderten Betrag zu zahlen und reichte daraufhin Klage beim zuständigen Verwaltungsgericht Gelsenkirchen ein.
Das VG Gelsenkirchen gab der Klage am 27. April 2020 statt und verpflichtete das Land Nordrhein-Westfalen dem Kläger entgeltlose Kopien der von ihm geforderten Dokumente zu übersenden.
Das OVG NRW als Berufungsgericht bestätigte die Entscheidung des VG Gelsenkirchen im Ergebnis.
Offen lässt das Gericht, ob der Sachverhalt in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt und damit die DSGVO unmittelbar auf den Sachverhalt anwendbar ist. Eine Entscheidung ist aber nicht notwendig, da zumindest in Verbindung mit § 5 Abs. 8 S. 1 DSG NRW die Vorschriften der DSGVO über das Landesrecht Anwendung finden.
Eine Voraussetzung, damit Ansprüche aus der DSGVO überhaupt in Betracht kommen, ist unter anderem, dass personenbezogene Daten vorliegen. Nach Rechtsprechung des EuGH stellt es im Rahmen der Personenbezogenheit der Daten kein Problem dar, wenn die Daten bei der Korrektur der Prüfungsarbeiten nur anonymisiert, mit einer Kennziffer versehen vorlagen. Es genügt, wenn die Entschlüsselung und konkrete Zuordnung der Daten durch die gleiche Einrichtung erfolgt, die auch die Daten erhebt. Dass Aufsichtsarbeiten und die Prüfergutachten personenbezogene Daten sind, hatte das EuGH in der Vergangenheit bereits entschieden [EuGH, Urt. v. 20. Dezember 2017 - C-434/16]. Dem schloss sich das OVG NRW an.
Zudem entschied das OVG, dass der Anspruch auf Einsichtnahme aus § 23 Abs. 2 JAG NRW nicht in Konkurrenz zu dem Anspruch auf Auskunft und Zusendung der Daten aus der DSGVO steht. Beide Ansprüche können zwar zu demselben Ergebnis führen, nämlich dass Einsicht in die Aufsichtsarbeiten gewährt werden muss, werden jedoch auf andere Erwägungsgründe gestützt. So soll der Anspruch aus der DSGVO für Transparenz der Datenverarbeitung sorgen und dem Betroffenen das für die Wahrung seiner Grundrechte entsprechende Wissen zur Verfügung stellen, während der Anspruch aus dem JAG NRW auf Transparenz des Prüfungsverfahrens gerichtet ist.
Sehr bedeutsam ist die Ansicht des Gerichts zur Auslegung von Art. 15 Abs. 3 S. 1 i. V. m. Art. 12 Abs. 5 S. 1 DSGVO bzgl. des Umfangs des Auskunftsanspruches.
Das OVG NRW stellte klar, dass eine zu restriktive Auslegung schon dem Wortlaut nach nicht geboten sei und auch dem Sinn und Zweck der in Rede stehenden Normen der DSGVO widerspreche. Die Bedeutung personenbezogener Daten und der Auskunft darüber wird durch Art. 8 Abs. 2 der Grundrechtecharta nochmals betont und muss bei der Auslegung der DSGVO berücksichtigt werden. Dem Betroffenen soll die Überprüfung ermöglicht werden ob, in welchem Umfang und auf welche Art die Daten verarbeitet werden, auch, um daraufhin ggfs. Ansprüche geltend zu machen.
Konkret entschied das Gericht, dass der für die Datenerhebung Verantwortliche verpflichtet ist, dem Betroffenen sämtliche personenbezogene Daten zur Verfügung zu stellen, die Gegenstand einer Verarbeitung sind. Insbesondere geht der Anspruch damit über die in Art. 15 Abs. 1 DSGVO genannten Daten hinaus. Dem steht nicht entgegen, dass nach Art. 12 Abs. 5 S. 2 DSGVO „bei offenkundig unbegründeten oder – insbesondere im Fall von häufiger Wiederholung – exzessiven Anträgen einer betroffenen Person […]“ ein Entgelt gefordert oder die Auskunft verweigert werden kann. Ein solcher Fall liegt grundsätzlich nicht vor, wenn ein Betroffener seine Rechte aus Art. 15 Abs. 3 S. 1 DSGVO geltend macht. Dabei ist es auch nicht rechtsmissbräuchlich, wenn als Folge des ansonsten rechtmäßigen Anspruchs, ein hoher Aufwand entsteht, um diesen zu erfüllen.
Andere Einschränkungen des Anspruchs, beispielsweise auf bestimmte Informationen oder auf nicht „datenschutzfremde Zwecke“ schloss das Gericht aus.
Das letzte Wort muss jedoch noch nicht gesprochen sein. Aufgrund der grundsätzlichen Bedeutung des Umfangs von Art. 15 Abs. 3 S. 1 DSGVO war die Revision zuzulassen.
Sollte es jedoch bei diesem Ergebnis bleiben, dann wäre das insbesondere in datenschutzrechtlicher Hinsicht ein wichtiges Zeichen.
Denn durch dieses Urteil wird die Relevanz des Datenschutzes erneut hervorgehoben und seine Stellung gestärkt. Voraussetzung für einen effektiven Datenschutz ist die Information darüber, welche Daten auf welche Art verarbeitet werden. Durch eine weite Auslegung eines Auskunftsanspruches und der Möglichkeit, diese Daten als Betroffener zu erhalten und überprüfen zu können wird das weitere Vorgehen und die Geltendmachung von anderen Ansprüchen erheblich erleichtert.
© Stefan Müller-Römer, Philipp Selbach, August 2021, Alle Rechte vorbehalten